DIRECTOR´S NOTE

DIE TOCHTER hat zwei Wurzeln. Letztes Jahr im Spätsommer saß ich in Berlin draußen auf der Terrasse eines Kreuzberger Restaurants und beobachtete folgende Szene: Ein ungefähr dreijähriger Junge rollte gelangweilt mit seinem Bobby Car um eine Eisenstange des Vorplatzes vom Café. Quengelnd versuchte er die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu erobern, die in ein lebhaftes Gespräch mit Freunden vertieft waren. Wütend über die Nichtbeachtung der Eltern, fing der Junge an, sein Bobby Car gegen die Eisenstange zu rammen, immer doller. Seine Eltern, lachend am Erzählen, schauten nicht zu ihm. Zitternd vor Wut schmiss sich der Junge auf den Boden und kickte das Bobby Car zur Seite. Es fiel um. Laut begann er los zu heulen. Jetzt reagierten die Eltern. Die Mutter stand auf, ging zu ihrem Jungen hin, hockte sich neben ihn und wollte wissen, was ihm passiert sei. Der Junge zeigte heulend auf die Eisenstange und rieb sich den Kopf. Die Mutter pustete mitfühlend gegen seine Stirn und der ganze Tisch schaute zu ihnen hinüber – alle raunten dem Jungen tröstende Laute zu. Die Mutter nahm ihr Kind auf den Arm und trug es zum Tisch. Der Junge schaute mich über die Schulter der Mutter hinweg an und ich meinte, ihn ganz leise lächeln zu sehen. Jetzt hatte er die Aufmerksamkeit, die er wollte, obwohl in Wirklichkeit gar nichts passiert war.

Eine Art Schlüsselmoment für den Film war noch eine Situation: Fabian Gamper (Kamera) und ich waren zur Vorbereitung unseres vorigen Filmes nach Ligurien gereist. Als wir in der Sonne vor der Eisdiele in Albenga saßen, trat ein Mann Anfang fünfzig mit einer attraktiven Frau Anfang zwanzig im Arm aus der Gelateria. Sie schleckten an ihrem Eis und der Mann lachte verzückt als die Frau versuchte an seinem Eis zu lecken. Der enorme Altersunterschied fiel auf, aber die beiden wirkten wie ein glücklich verliebtes deutsches Urlauber – Paar, das zusammen seine Ferien genießt. Da trat eine Frau im Alter des Mannes aus der Gelateria. Sie blieb im Schatten der Markise stehen und schaute zu dem turtelnden Paar in der Sonne.
Die feinen Linien um ihre Augen – Lachfältchen, die sie sanft und schön machten – ihr Blick war so ruhig und von so tiefer Traurigkeit, dass er mich im Innersten berührte.
Die junge Frau drehte sich zur Gelateria um und rief der älteren Frau zu: „Mama, wo lang müssen wir?“
Aufgereiht in einer Dreierreihe, liefen sie die Gasse entlang und wir konnten ihnen nachsehen: Links die Mutter mit einem halben Meter Abstand zu ihrem Mann, dann der Mann, der Arm in Arm mit seiner Tochter ging. Mutter, Vater, Kind. Aber es sah aus wie Ehefrau, Ehemann und Geliebte.

Wann beginnt Rollentausch innerhalb einer Familie? Wieso haben Eltern plötzlich Angst vor ihren Kindern?

Mit dem Film DIE TOCHTER möchte ich eine andere Wirklichkeit zeigen, als die allgemeingültige Annahme, alle Kinder würden wollen, dass ihre Eltern zusammen sind. Die Beziehung zum eigenen Kind stellt für Hannah und Jimmy die einzig konstante Bindung dar – die, die alle Paarbeziehungen überdauert. Sie sind sozusagen gleichermaßen abhängig von ihrem Kind, wie Luca von ihren Eltern. Luca bekommt durch ihre besondere Rolle in der Familienkonstellation eine Wichtigkeit für die Eltern, die ihr viel Macht verleiht. Und wie der Junge auf dem Bobby Car, nutzt Luca ihre Macht, um ihren Willen durchzusetzen. Das siebenjährige Mädchen ist bereit, bis zum Äußersten zu gehen: Um ihre Identität – die Königin an Vaters Seite – zu wahren und das Bindeglied der Familie, der Mittelpunkt um den sich alles dreht zu bleiben, wird sie zur Meisterin der Manipulation.